Das Zeitalter von MusicTech geht jetzt erst richtig los
Musik gehört zur menschlichen Identität wie der eigene Fingerabdruck. Seit Urzeiten hat sie sich mit uns entwickelt und geformt – bis ins digitale Zeitalter. Zunächst erschufen die alten Ägypter Saiteninstrumente bis im 18. Jahrhundert ganze Orchester harmonierten, im 20. Jahrhundert wurden dann elektronische Instrumente erfunden und inzwischen leben wir im Zeitalter von großen Distributionsplattformen und künstlicher Intelligenz.
Dank Technologie können Künstler heutzutage auch in Krisenzeiten – wie nun zu Corona, wo Social Distancing Live-Konzerte sogar gesetzlich verwehrt werden – ihre Fans musikalisch unterstützen. Hier zeigt sich noch einmal die enorme Bedeutung und Relevanz von Streamingdiensten. Doch der Wettbewerb ist hoch, während der Konkurrenzkampf nach Sichtbarkeit auf den unterschiedlichsten Plattformen ausgetragen werden muss. Anstatt die Zeit in Proberäumen oder auf Bühnen zu stehen, schmieden Musiker derzeit Marketingpläne, um mit ihren Fans in Interaktion zu treten und relevant zu bleiben. Die Fragmentierung der Inhalte über unterschiedliche Plattformen, die verschiedensten Möglichkeiten des User Engagements, die Eigenarten der jeweiligen Algorithmen und die unendlichen Möglichkeiten der Contentkreation, treiben Musikschaffende im Moment die Schweißperlen auf die Stirn. Werden die Dinge noch komplizierter? Was können wir vom Jahr 2021 erwarten? Felix Willikonsky, Executive Director für digitale Strategien bei PIABO, berät seit vielen Jahren Marken, Musikkünstler und Labels in ihren Marketingaktivitäten und schaut für uns in die Music-Tech-Glaskugel.
Wie Musikkünstler die Vorzüge des World Wide Web zu schätzen lernten
Das 21. Jahrhundert war noch sehr jung als Myspace.com die Internetwelt regierte. Nutzer konnten ausgewählte Musik auf ihren Seiten teilen, Bands konnten sich erstmalig im großen Stile über eine reine Social-Media-Plattform der digitalen Öffentlichkeit präsentieren. Die Plattform wurde so zur Anlaufstelle für neue, aufstrebende Bands und verhalf Acts wie Arctic Monkeys, Kate Nash oder Owl City zu internationalen Welt-Karrieren. Künstler wurden nahbarer, der Schaffensprozess transparenter, Fans durften hinter die Kulissen blicken und auf YouTube entstanden parallel nutzergenerierte Konzertvideos und kollaborative Content-Initiativen. Lag die Kommunikationshoheit damals noch beim Künstler, verschob sich das Kräfteverhältnis zwischen Prosumer (Kofferwort aus Produzent und Konsument), Plattform und Künstlern spätestens als Facebook den damaligen Platzhirschen Myspace überholte. Es folgten Paid Advertisements, Twitter, Snapchat, Instagram, Linkedin, Last.Fm, WhatsApp, Soundcloud, Spotify, Deezer, Pandora und zuletzt der raketenhafte Aufstieg von TikTok.
Livestreaming boomt in Zeiten der Pandemie
Während Musikkünstler derzeit größtenteils noch den richtigen Umgang mit TikTok suchen, sorgt die Corona-Pandemie für einen Boom von Livestreaming auf Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitch und YouTube. Dazu drängen plötzlich auch Plattformen wie Peloton auf den Markt, die, obwohl Musik hier eine Nebensache ist und der Fokus auf der sportlichen Aktivität liegt, Musikkonsum noch mehr fragmentieren. Anbieter buhlen um Aufmerksamkeit und wollen die neuesten viralen Hits durch künstliche Intelligenz und Algorithmen schmackhaft machen. Während früher eine Künstlerin wie Lady Gaga auf allen Kanälen stattfand, sind heute Nummer 1 Hits oftmals für viele Zielgruppensegmente kaum erreichbar. Radioprogramme koppeln sich parallel von Internettrends ab. In dieser sehr diffusen Phase der Musikindustrie müssen sich die Musiker entweder stark abheben und aus dem Markt herausstechen oder sich auf ein Nischenpublikum konzentrieren.
Bleibende Veränderung für den Musik-Livemarkt
Für Kommunikationsexperten Robert Helbig, CEO von Firefinch PR, wird 2021 aufgrund der Covid-19-Pandemie das Thema Livestreaming noch deutlicher in den Vordergrund rücken: "2021 müssen wir mit großen Umbrüchen und Innovationen vor allem im Musik-Livemarkt rechnen. Die Pandemie verändert den Musikmarkt massiv und Digitalisierungsprozesse werden enorm beschleunigt. Gleichzeitig rufen Organisationen wie Music Declares Emergency die Musikindustrie zu Nachhaltigkeit auf. Deswegen werden Streamingkonzerte immer wichtiger und besser werden. Selbst wenn es in Argumenten oft heißt, dass Streamingkonzerte qualitativ nicht vergleichbar sind mit “echten” Konzerten, bereiten sie viele Chancen, wie neue Zielgruppen zu erschließen – z.B. in Ländern, in denen ein Künstler sonst nicht touren würde. Oder vormalige Käufer von Live-DVDs, die ja auch nicht zwangsläufig typische Konzertgänger gewesen sein müssen. Nun kommen zusätzlich z.B. durch Livechats Möglichkeiten eines Community-Feelings hinzu, sodass Technologie hier eine wichtige Brücke schafft und Gleichgesinnte miteinander verbindet. Das gibt es weder bei DVD Konzerten noch bei Fußballspielen am TV. In meiner Perspektive wird es in Zukunft kein entweder Streaming- oder “echte” Konzerte geben – sondern ein Miteinander. Qualität, Kreativität und Innovation wird sich durchsetzen. Auch mit schwindenden Venues, Veranstaltungsfirmen und Konzertbookern könnte das Live-Geschäft künftig schwer leiden. Zumal die Reisebestimmungen weiterhin unklar bleiben und internationale Touren dadurch logistisch schwerer zu stemmen sein werden. Generell hängen vielen Entwicklungen auch an den künftigen rechtlichen Verordnungen.”
Wenn Kunst auf Technik trifft
Tatsache ist: die Gesetze und rechtliche Grundlagen hinken der technologischen Entwicklung hinterher. Von den Gesetzgebern werden weltweit Rechtsgrundlagen und Anpassungen für das Verlagswesen und Urheberrecht eingefordert, die bisher nur für die klassischen Distributionskanäle wie TV und das Radio gelten. Für Constantin Hochwald, Kreativchef von Brain’n’Dead, steht insbesondere der Umgang mit ungewünschten Inhalten, Zensur und der Kuratierung von Inhalten im Zentrum der Entwicklung: "Music Tech wird in diesem Jahr die Aufgabe bekommen, Re-Uploads zu erkennen und gegebenenfalls sogar über diverse Text-Mining-Features, wie z.B. Sentiment Analysen, „bedenkliche“ Inhalte aufzuspüren und automatisiert zu sperren oder zu löschen."
Und an dieser Stelle begeben wir uns auf das Glatteis der ewigen Diskussion, was Kunst denn überhaupt darf. MusicTech wird in den nächsten Monaten beantworten müssen, was in bestimmten Kontexten ironisch gemeint ist, ob gewisse Teile des Deutschrap „zu frauenfeindlich“ sind und wie weit künstlerische Freiheit in der Musik (und natürlich in Podcasts) gehen darf. MusicTech muss in der Musik die Ebene der menschliche Kommunikation erkennen und verstehen können. Und notfalls selbst entscheiden, wie und wo man sie moralisch verortet.
Auch die Löschung der Accounts des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump könnte Auswirkungen auf die technologische Entwicklung in der Musikbranche haben. Constantin Hochwald fügt an: "Twitter und Facebook haben den ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten von ihren Plattformen gesperrt. Und andere zogen nach. Das wäre bis vor nicht allzulanger Zeit eigentlich noch undenkbar gewesen. Verschwörungstheoretiker-Gruppen wurden ebenso entfernt wie Einzelpersonen. Die App „Parler“, auf die schon seit einiger Zeit diverse Personen u.a. aus der Trump-Anhängerschaft gewechselt sind, wurde erst aus Apples App Store und dann auch aus Googles Play Store entfernt. Die Begründung dafür war ein fehlendes Konzept zur Content-Moderation und damit ein fehlender Ansatz, wie Hatespeech u.ä. auf dieser Plattform verhindert werden kann."
Auch Künstler denken in Kanalstrategien
Gleichzeitig streben auch immer mehr Künstler:innen danach, eigene Kanäle aufzubauen, die unabhängig von den großen Gatekeepern funktionieren sollen. So vermarktet die Band Culcha Candela exklusive Inhalte nur noch über Getnext statt auf Facebook und Co. Dadurch werden direkte Einnahmen erhöht und der Austausch mit den Fans intensiviert.
Während Netflix inzwischen künstliche Intelligenz nutzt, um personalisierte Trailer an sein Publikum auszuspielen, hat der Singer-Songwriter Andrew Paley gleich ein Programm entwickelt, das lernt, Videobilder zu seinen Sounds zu generieren. So entsteht eine Symbiose aus Musik und Technologie, die er nicht nur für offizielle YouTube-Videos, sondern auch für Teaser-Formate auf allen Social-Media-Plattformen und innerhalb der Streaminganbieter nutzen kann. Zuletzt entstand bei Spotify das Werbemittel “Canvas”, das den Musikdienst auch im Bereich Video positioniert. Der Anbieter MixCloud hingegen geht den umgekehrten Weg und stärkt die Macht seiner Kuratoren. Ähnlich wie beim alten Mixtape können Nutzerinnen und Nutzer hier eigene Communities aufbauen und ihren persönlichen Geschmack weitergeben. Ob das dem Zeitgeist entspricht, wird sich zeigen. Es steht jedoch fest, dass sich Rezipient:innen und Künstler:innen mit technologischen Fragestellungen mehr denn je auseinandersetzen.
Felix Willikonsky ist Executive Director Digital Strategy bei PIABO. Zuvor war er vier Jahre als Head of Social Media bei DAZN und arbeitete ebenfalls für Red Bull in Wien. Seit der Schulzeit tourte er mit befreundeten Musik-Bands wie MxPx, The Static Age und The New Division durch über 30 verschiedene Länder und die meisten Staaten der USA.