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08.09.2023
IAA-Mobility-23-jf-04246
IAA-Mobility-23-jf-04246
Professor Wolfgang Gruel, Experte für intelligente Mobilitätskonzepte an der Hochschule Esslingen

Chancen der Mobilität durch Digitalisierung

Wir starten in unseren "Mobility-Month"!
Kirsten Kurze, unsere Practice Director Mobility, hat dafür exklusiv mit Professor Wolfgang Gruel, Experte für intelligente Mobilitätskonzepte an der Hochschule Esslingen und Leiter des Fraunhofer-Anwendungszentrums KEIM, gesprochen.

Der erste Teil unseres neusten Blogartikels liefert aufschlussreiche Einblicke in die Chancen, die die Digitalisierung für unsere Mobilität bietet.

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Nachhaltige Mobilität in Deutschland: Eine grundlegende Veränderung

Die schlechte Nachricht zuerst: Es gibt sie nicht, die eine Technologie oder das eine Konzept, das unser Mobilitätssystem nachhaltig macht. Wenn wir unser Mobilitätssystem in Richtung Nachhaltigkeit verändern wollen, müssen wir es grundlegend verändern. 

Die aktuelle Diskussion um Antriebssysteme greift hier meines Erachtens deutlich zu kurz. Sie nährt die Hoffnung, dass wir außer den Antriebssystemen in unseren Fahrzeugen nichts verändern müssen an unserem Mobilitätssytem. Also statt Diesel oder Benzin zu tanken, eben alternative Antriebe nutzen und dann wie gewohnt weitermachen – ganz nach dem Motto "Wasch mich, aber mach mich nicht nass". So wird das aber vermutlich nicht funktionieren. 

An verschiedenen Orten wird aktuell viel über die Mobilitätswende diskutiert – in der wissenschaftlichen Diskussion sind neue Antriebskonzepte nur der letzte Schritt in diesem Prozess. Denn andere wichtige Schritte müssen zuerst vorrangehen.

Verkehr vermeiden durch Videokonferenzen, lokal produzierte Güter, verändertes Freizeitverhalten

Zunächst steht die Frage im Raum, wie wir Verkehr vermeiden können, also: Wo ist es tatsächlich notwendig, dass Menschen oder Güter sich bewegen? Und wo kann man darauf verzichten? Hier können Technologien wie Videokonferenzen, aber auch der Konsum von lokal produzierten Gütern und ein verändertes Freizeitverhalten sicher eine große Rolle spielen [nur am Rande erwähnt: etwa 2/3 des Verkehrs findet in der Freizeit statt].

Im nächsten Schritt wird überlegt, wie Verkehre von umweltschädlichen zu weniger umweltschädlichen Verkehrsmitteln verlagert werden können. Hier spielt z.B. der Umstieg vom Auto aufs Fahrrad oder auf den öffentlichen Verkehr eine wichtige Rolle.

Erst im letzten Schritt geht es dann darum, die Verkehrsmittel, die unbedingt benötigt werden, so zu gestalten, dass sie möglichst effizient und umweltfreundlich sind. In dieser Stufe spielen dann neue Antriebskonzepte oder eine Effizienzsteigerung eine Rolle, wie sie z.B. durch besseredurch eine bessere Vernetzungen von Fahrzeugen untereinander (V2V oder mit der Infrastruktur (V2I) erreicht werden kann.

Es braucht geistige Mobilität

Viel diskutiert werden intermodale Verkehrskonzepte. Diese verbinden verschiedene Verkehrsmittel wie z.B. Fahrrad und Bahn und vereinigen so Vorteile und Effizienz von Massentransportmitteln mit Vorteilen, die Individualverkehrsmittel auf der letzten Meile haben. So können gleich viele Menschen flexibel, aber mit deutlich geringerem Ressourceneinsatz transportiert werden. Um dieses Konzept zu fördern, kann neben intelligenten Hard- und Software-Systemen, vernetzten Sharing-Konzepten auch das autonome Fahren einen wichtigen Beitrag leisten.

Vermutlich am wichtigsten ist aber die geistige Mobilität, die wir brauchen, um Mobilität in Deutschland positiv und nachhaltig zu gestalten. Viele Gewohnheiten werden auf dem Prüfstand stehen und viele Aspekte unseres Lebens, die direkt oder indirekt mit Mobilität zu tun haben, werden sich verändern. Das wird sicher nicht an allen Stellen reibungslos und bequem werden. Dennoch gilt es, die Chancen, die sich hier ergeben, zu erkennen und zuund auch zu nutzen.

Kundenbedürfnisse in der Mobilität: Von Personalisierung bis Nachhaltigkeit 

Klassischerweise werden in der Mobilitätsforschung v.a. Bedürfnisse wie eine kurze Reisezeit, Kosten, Komfort, Einfachheit in der Nutzung und Flexibilität betrachtet. Studien in den letzten Jahren stellen auch immer wieder heraus, dass Personalisierung – jeder Trip wird zur "Experience" – und Nachhaltigkeit eine immer größere Bedeutung erlangen. Darüber hinaus werden digitale Technologien sowohl bei der Planung und Organisation der Reise als auch während der Fahrt immer wichtiger – sowohl bei der Navigation als auch für das Entertainment und die Kommunikation mit anderen Verkehrsteilnehmer:innen.

Interessant ist die Diskrepanz zwischen Studienergebnissen und beobachtbarem Verhalten: Während beispielsweise die Bedeutung von Nachhaltigkeit bei Befragungen zunimmt, steigen gleichzeitig auch die Zulassungszahlen von Fahrzeugen, insbesondere von SUVs, und die Verkehrsleistung kontinuierlich.

Ich halte es in diesem Zusammenhang für besonders wichtig, nicht immer nur nach den  Bedürfnissen der Menschen zu fragen, die gerade mobil sind, sondern viel stärker auch die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen, die gerade nicht unterwegs sind, aber trotzdem durch Verkehr beeinflusst werden. Immerhin sind wir ja alle einen großen Teil des Tages nicht unterwegs – im Durchschnitt etwa 23 Stunden pro Tag. Zentrales Bedürfnis ist dabei ein lebenswerter Lebensraum, zu dem Ruhe, Sicherheit, gute Luft und ausreichend Platz für Spielplätze, Hobbies oder Bäume gehören.

Diese Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen, ist keine einfache Aufgabe. Und wir sehen hier immer wieder Differenzen zwischen verschiedenen Gruppen wie z.B. Stadtbewohner:innen vs. Pendler:innen oder Autofahrer:innen vs. Nicht-Autofahrer:innen. Insbesondere in Städten sorgt die Verteilung sowohl des Raums als auch von Kosten und Nutzen der Mobilität zunehmend für Konflikte. Dabei sind oft nicht mal für einzelne Personen die Rollen und Bedürfnislagen klar bestimmbar: Man ist ja nicht 24 Stunden am Tag Autofahrer:in, sondern auch mal zu Fuß unterwegs. Als Autofahrer:in würde man natürlich gern bis vor die eigene Haustür fahren und dort auch parken können. In der Zeit, in der man dann zu Hause ist, möchte man dann wiederum nicht von den negativen Auswirkungen des Pkw-Verkehrs behelligt werden.

Die Herausforderung der Veränderungskultur in Deutschland

In Deutschland sehen wir in der Veränderung eher etwas Negatives. Wir brauchen deswegen eine bessere Veränderungskultur, in der wir Veränderungen gegenüber offener sind und in der es möglich ist, Dinge einfacher auszuprobieren, Gutes zu behalten und weniger Gutes auch einfach wieder sein zu lassen.

Besonders wichtig ist es, ein gemeinsames und positives Leitbild zu haben. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich Mobilität auf so unterschiedliche Aspekte unseres Lebens auswirkt – von der Teilhabe am Arbeitsleben und der Wohnsitzwahl bis hin zur Teilnahme an sozialen Aktivitäten. Die aktuelle Mobilitäts-Diskussion ist mir hier meist zu negativ und wenig konstruktiv.

Sich auf ein neues Ziel zu einigen und verschiedene Interessen zu berücksichtigen, hört sich einfacher an als es ist – insbesondere weil die Ziele und Interessen sich teilweise widersprechen und die verschiedenen Stakeholder geübt darin sind, Nebenkriegsschauplätze zu vermeintlich existenziellen Fragen zu stilisieren und Entscheidungen zu verzögern. Letztendlich ist es also wichtig, Antworten auf die wichtigen Fragen zu finden, sich auf eine Zielrichtung zu einigen und diese Ziele dann gut in der Gesellschaft zu verankern, so dass möglichst viele daran arbeiten, sie umzusetzen – und vor allem, die Ziele nicht jedes Quartal wieder in Frage zu stellen.   

Es braucht eine konsequente Umsetzung 

Für zahlreiche Zielrichtungen gibt es sehr gut fundierte wissenschaftliche Umsetzungsvorschläge, die häufig bereits in Living Labs erprobt wurden. Es gibt hier also kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Das heißt, es geht weniger um die Erforschung der 1001sten App, die möglicherweise den Parksuchverkehr um eine bestimmten Anteil reduzieren kann, sondern um die konsequente Umsetzung von schon gefundenen Lösungen, auch wenn dies sicher nicht immer bequem ist.

Dieses Umdenken fordert uns alle, weil wir viele Gewohnheiten hinterfragen müssen. Dabei ist Offenheit für Neues und viel geistige Mobilität notwendig.

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